Gino Ebell

Quelle: BAM

Der Einsturz der Carolabrücke in Dresden hat ein lange unterschätztes Risiko ins Bewusstsein gerückt: die sogenannte wasserstoffinduzierte Spannungsrisskorrosion. BAM-Experte Gino Ebell, der an der Untersuchung der Unglücksursache beteiligt war, erklärt im Interview, wie diese Schäden entstehen, wie sie sich vorhersehen lassen – und welche Rolle die BAM bei der Sicherheit unserer Infrastruktur spielt.

Spannungsrisskorrosion kann nur an Brücken auftreten, die mit Spannbeton errichtet wurden. Was ist überhaupt Spannbeton und warum wird er bei Brücken eingesetzt?

Spannbeton bezeichnet genaugenommen eine spezielle Bauweise, bei der stählerne Drähte („Spannglieder“), vorgespannt und dann im Beton verbaut werden.

Die Spanndrähte werden in speziellen Kanälen oder Hüllrohren zu Bündeln zusammengefasst und dann im Beton der Brücke verlegt. Anschließend werden die Hüllrohre oder Spannkanäle mit einem speziellen Mörtel verfüllt, der den Spannstahl vor Korrosion schützen soll und gleichzeitig den gesamten Verbund sichert.

Die Zugspannung führt dazu, dass der Beton der Brücke quasi „zusammengedrückt“ wird – so wie mehrere Zuckerwürfel, die man zwischen zwei Fingern in der Luft hält. Diese Bauweise ermöglichte es, mit Spannbeton plötzlich elegantere und filigranere Brücken mit deutlich größeren Spannweiten im Vergleich zur herkömmlichen Bauweise mit klassischem Stahlbeton errichten zu können. Das machte diese Bauweise ab, den 1950erJahren auf der ganzen Welt sehr populär.

Wie kann es in solchen Bauwerken zur Spannungsrisskorrosion kommen?

Mehrere Faktoren kommen dabei zusammen:

1. Die bereits erwähnte Zugspannung, die generell durch die Vorspannung der Spanndrähte gegeben ist. Hinzu kommt die tägliche Belastung der Brücke, wie z. B. durch den Verkehr oder auch Temperaturschwankungen.

2. Ein korrosives „Medium“: Häufig Wasser oder Feuchtigkeit infolge von Regen oder Kondenswasser bei hoher Luftfeuchtigkeit, die in die Spannkanäle bzw. Hüllrohre eindringt.

3. Anfällige Spannstähle: Bestimmte hochfeste Spannstähle sind, wie wir heute wissen, besonders empfindlich für Spannungsrisskorrosion.

Sind diese drei Faktoren gegeben, kann es zur Spannungsrisskorrosion, d. h. zu einem Anriss des Spannstahls kommen. Mit zunehmender dynamischer also wechselnder Zugbeanspruchung infolge unterschiedlicher Verkehrsbelastung oder großen Temperaturschwankungen brechen erst einzelne, dann zahlreiche Spanndrähte, was schließlich die Tragfähigkeit der gesamten Brücke gefährdet und zu ihrem Einsturz führen kann.

Was versteht man in diesem Zusammenhang unter der „wasserstoffinduzierten“ Spannungsrisskorrosion, die zum Einsturz der Dresdener Carolabrücke führte?

Bei der wasserstoffinduzierten Spannungsrisskorrosion wird der Prozess durch Wasserstoff „induziert“, d. h. hervorgerufen. Kurz gesagt: Wasserstoffatome dringen in die stählernen Spanndrähte ein, machen sie spröde und verursachen Risse im Metall.

Was genau geschieht dabei?

Der auslösende Moment liegt immer darin, dass Wasserstoffatome in den Stahl eindringen, wie wir Expert*innen sagen, dass sie von ihm “absorbiert” werden und durch den Stahl hindurchdringen, „diffundieren“.

Das passiert tragischerweise meist schon bei der Errichtung des Bauwerks, wenn also z. B. auf der Baustelle die Spanndrähte freiliegen und sie Regen oder Kondenswasser aufgrund hoher Luftfeuchtigkeit ausgesetzt sind.

Die Entstehung des atomaren Wasserstoffs aus Wasser ist dabei auf Korrosionsprozesse zurückzuführen, bei denen ein „saurer“ Feuchtfilm (H2O mit einem pH-Wert von unter 5) auf der Oberfläche des Spannstahls liegt. Entstehen kann dieser Feuchtfilm zum Beispiel aus Kondenswasser in Kombination mit hohen Schwefeldioxidgehalten der Luft.

Wird Wasserstoff aus solch einem Feuchtfilm absorbiert, diffundieren die H2-Atome in das Metallgitter des Stahls und lagern sich im Metall ab. Diese Einlagerung führt zur Versprödung des Metalls und schließlich zur Bildung von Rissen.

Warum führte das im Fall der Carolabrücke schließlich zum Einsturz?

Im Falle der Carolabrücke in Dresden wurde ein hochempfindlicher „vergüteter“ Spannstahl verwendet, d. h. ein Material, das einer bestimmten Vorbehandlung unterzogen wurde, die ihm eigentlich bessere mechanisch-technologische Eigenschaften verleihen sollte. Es handelt sich dabei um den sogenannten „Hennigsdorfer Spannstahl“, der in der ehemaligen DDR im Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf nördlich von Berlin hergestellt und bis 1993 verbaut wurde. Heute wissen wir, dass gerade der Hennigsdorfer Spannstahl besonders empfindlich für Spannungsrisskorrosion ist.

Welche weiteren Ursachen kamen hinzu?

Der zweite entscheidende Faktor war der Schwefeldioxidgehalt der Luft zur Bauzeit der Brücke. Die Schwefeldioxidgehalte in der Luft erreichten im Jahre 1969 im Raum Dresden aus heutiger Sicht unvorstellbare Tagesspitzenwerte, die 1050 Microgramm pro Kubikmeter Luft betrugen – mehr als das 50fache des heute zulässigen Grenzwerts. Das lag vor allem an der intensiven Nutzung von Braunkohle durch Industrie und Kraftwerke in der Region und der nicht vorhanden Rauchgasentschwefelung, aber auch gerade in den Wintermonaten am Heizen mit Braunkohle.

Bei solch hohen Luftschadstoffgehalten konnten die Spannstähle wie beschrieben bereits beim Bau maßgeblich geschädigt werden. Insbesondere, wenn sie längere Zeit auf der Baustelle freilagen und der Feuchtigkeit, d. h. durch Feuchtfilmbildung aus Kondenswasser, ausgesetzt waren. Zusammen mit der stark schwefeldioxidhaltigen Luft konnte die oben beschriebene chemische Reaktion einsetzen. Anders formuliert: Die Wasserstoffatome drangen also schon vor über 50 Jahren in den Spannstahl der Carolabrücke ein und führten zu dessen Versprödung und zu Anrissen.

Inwieweit war die BAM in die Untersuchung der Einsturzursache eingebunden?

Die BAM hat im Auftrag des Hauptgutachters für die Untersuchung der Carolabrücke, des Ingenieurbüros Marx Kronthal und Partner sowie Prof. Steffen Marx von der TU Dresden, die Schadensinitiierung an den Spannstählen rekonstruiert und konnte die Schädigung der Spannstähle auf den Erstellungszeitraum vor dem Verpressen der Hüllrohre datieren – d. h. die Ursache für den späteren Einsturz liegt tatsächlich im Jahr 1967 bis 1969, als die Brücke errichtet wurde. Dabei wurden zwei maßgebliche Schädigungen in Kombination, mit der bereits beschriebenen hohen Schwefeldioxid-Belastung der damaligen Luft im Raum Dresden identifiziert. Die Schädigung im Bereich der Stütze „D“ des Brückenzugs „C“ konnte ganz klar auf wasserstoffinduzierte Spannungsrisskorrosion infolge Kondenswasseranfall zurückgeführt werden. Vereinzelte Anrisse an Spanndrähten, die nicht aus dem Bereich der Stütze kamen, können durch Beregnung während des Anlieferungsprozesses entstanden sein.

Wie viele Brücken sind in Deutschland von dem Phänomen Spannungsrisskorrosion schätzungsweise betroffen?

Wir untersuchen gerade an der BAM in größerem Umfang weitere Festigkeitsklassen von vergüteten Spannstählen hinsichtlich ihrer Empfindlichkeit für dieses Phänomen. Denn letztlich ist nicht nur der Hennigsdorfer Stahl betroffen. Auch in der alten Bundesrepublik wurde in den 1950er bis 1970er Jahren Stahl verbaut, der potenziell anfällig ist. Erst nach Abschluss dieser Untersuchungen und der Auswertung von flächendeckenden historischen Luftschadstoffmesswerten aus ganz Deutschland, die die lokale Schwefeldioxidgehalte der Luft angeben, kann man hierzu eine Aussage treffen. Es ist aber davon auszugehen, dass eine höhere vierstellige Anzahl an Brücken in Deutschland potenziell von wasserstoffinduzierter Spannungsrisskorrosion betroffen ist.

Was kann konkret getan werden, wenn bei einer Brücke die Vermutung besteht, dass sie betroffen ist?

Sofern man vermutet, dass bereits Anrisse an den Spannstählen vorhanden sind, muss man an maßgeblichen Stellen wie z. B. in der Feldmitte eines Bauwerks (die „Feldmitte“ bezeichnet die geometrische Mitte eines Elements, das von Stützen getragen wird) und – wie wir inzwischen wissen – wichtiger noch oberhalb der Stützen der betroffenen Brücke, Spannstähle als Probe entnehmen und diese im Labor untersuchen.

Dazu haben wir an der BAM einen Arbeitsablauf entwickelt, der nur wenige Tage in Anspruch nimmt. Wir können dabei feststellen, ob bereits Anrisse vorhanden sind, welche Elemente in dem Stahl gezielt bei der Herstellung hinzulegiert wurden, um welches Gefüge es sich handelt und ob er somit tatsächlich anfällig gegenüber wasserstoffinduzierter Spannungsrisskorrosion ist oder nicht. Auf diese Weise haben wir bereits zahlreiche Proben erfolgreich untersucht.

Ist sichergestellt, dass ein für diesen speziellen Korrosionsprozess ‚empfindlicher‘ Spannstahl verbaut wurde, besteht die Option, das Bauwerk mittels eines geeigneten Monitoringverfahrens zu überwachen.

Welches Monitoring kommt hier in Frage?

Für diese Art der Bauwerksschädigung hat sich das Schallemissionsmonitoring etabliert. Dabei werden, vereinfacht gesagt, einzelne Spanndrahtbrüche als Schallereignis aufgezeichnet, lokalisiert und ausgewertet. Dazu entwickelt die BAM ein spezielles Auswerteverfahren, um den Ort, an dem der Draht gebrochen ist, automatisiert zu ermitteln. Bei einer signifikanten Zunahme an Spanndrahtbrüchen würde man zunächst einzelne Fahrspuren sperren oder auch schließlich das ganze Brückenbauwerk schließen.

Was kann auf regulatorischer Ebene getan werden, um die Sicherheit von Brücken zu gewährleisten, die von Spannungsrisskorrosion betroffen sind?

Aktuell werden diese Brückenbauwerke gemäß der sogenannten „Handlungsanweisung Spannungsrisskorrosion“, die das Bundesverkehrsministeriums 2011 herausgegeben hat, behandelt. Dabei kommt das sogenannte „Riss-vor-Bruch-Kriterium“ zur Anwendung. Es beruht auf der Annahme, dass bei Brücken, die durch Spannungsrisskorrosion gefährdet sind, zunächst am Bauwerk sichtbare Risse auftreten, bevor es zu einem vollständigen Versagen der Struktur und einem Einsturz kommt. Die Brücke „kündigt“ ihr späteres Versagen sozusagen rechtzeitig selbst an.

Diese Vorgehensweise wird jedoch infolge des Teileinsturzes der Carolabrücke aktuell überdacht.

Welche Konsequenzen werden aus dem Ereignis in Dresden gezogen?

Der Einsturz hat eine Welle der Sensibilisierung unter den Expert*innen und zuständigen Behörden für dieses Thema ausgelöst. Die bisherigen Vorgehensweisen werden, wie bereits erwähnt, überdacht und müssen in Teilen zwingend überarbeitet werden. Baulastträger - das sind in Deutschland diejenigen Instanzen, die für den Bau, die Unterhaltung und die Verkehrssicherung von Straßen und Brücken verantwortlich sind, also Bund, Länder, Kreise und Gemeinden, lassen derzeit ihre Brückenbauwerke in weitaus größerem Umfang überprüfen, zum großen Teil mit vorsorglicher Beprobung der verbauten Spannstähle.

Lässt sich aus dem Wissen um die Schädigungsmechanismen während der Bauphase ein besserer Schutz für bestehende Brücken ableiten?

Aktuell entwickeln wir an der BAM einen Modelansatz, aus dem hervorgeht, wann an einem so geschädigten Bauwerk die ersten Spanndrahtbrüche auftreten. Hierfür erzeugen wir im Labor künstlich wasserstoffinduzierte Risse an alten Spannstählen, die wir beim Rückbau von Brücken entnehmen konnten.

Danach untersuchen wir diese Proben mittels Mikrocomputertomografie und bestimmen die Anrissflächen. Mit diesen Proben kann man dann dynamische Belastungsversuche bis zum Versagen des Spanndrahts durchführen und die gewonnenen Daten für die Modellbildung verwenden.

Anders gesagt: Wenn wir den Spannstahl kennen, der in einer Brücke verbaut wurde, dazu die Belastungen, denen sie im Lauf der Jahrzehnte ausgesetzt war, und Daten zur Schadstoffbelastung der Luft während der Bauzeit haben, dann können wir eine Aussage dazu treffen, wie wahrscheinlich es ist, dass die Brücke stark von wasserstoffinduzierter Korrosion betroffen ist und ob sie näher untersucht werden sollte.

Unser Prüfverfahren, das wir an der BAM in interdisziplinärer Zusammenarbeit verschiedener Spezialist*innen entwickelt haben, ist bereits Bestandteil des neuesten ISO-Norm-Entwurfs für die Prüfung von Spannstählen. Es stellt sicher, dass keine neuen Spannstähle auf den Markt kommen, die empfindlich für die beschriebenen Korrosionsprozesse sind.

Zum anderen untersuchen wir mit diesem Prüfverfahren alte, also bereits verbaute Spannstähle, um deren Robustheit, also die tatsächliche Anfälligkeit des Grundwerkstoffes gegenüber wasserstoffinduzierter Spannungsrisskorrosion zu beschreiben und zu bewerten.

Insgesamt kann man auf Basis dieser Norm, die als Entwurfsfassung 2024 veröffentlicht wurde, mit Sicherheit sagen, dass neu zugelassene Spannstähle keine erhöhte Anfälligkeit gegenüber wasserstoffinduzierter Spannungsrisskorrosion mehr haben werden.

Weiterführende Informationen