Seit Oktober 2020 erforscht ein Team aus Historiker*innen die NS-Vergangenheit der BAM sowie der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) und Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB). Die heutigen Bundesbehörden gehen auf Vorgängerinstitutionen zurück, die bereits im 19. Jahrhundert gegründet wurden, und sind heute dem Bundesministerium für Wirtschaft und KLimaschutz (BMWK) nachgeordnet. Zwischen 1933 und 1945 stellten sie sich bereitwillig in den Dienst des NS-Regimes und erfüllten zahlreiche Aufgaben und Wissenschaft und Forschung.


Ein Gespräch der BAM mit Prof. Dr. Dr. Helmut Maier, Wissenschaftshistoriker an der Bergischen Universität Wuppertal und einem der beiden Projektleiter, über die Verstrickung der BAM-Vorgängerin und erste Erkenntnisse.

Herr Prof. Maier, was steht im Fokus der Untersuchungen?

Die Frage der Verstrickung in den NS-Herrschafts- und Vernichtungsapparat sowie des Umgangs mit dieser Vergangenheit in der Bundesrepublik und in der DDR steht im Zentrum. In unserem biographischen Teilprojekt erforschen wir die Schicksale Verfolgter, suchen aber auch nach NS-Aktivisten und Tätern. Schließlich gilt es, die Frage nach der Beteiligung von Mitarbeitern der vier forschenden Behörden an Raubaktionen in den besetzten Gebieten und am Einsatz von Sklaven- und Zwangsarbeitern zu beantworten. Denn Zwangsarbeit gab es ja nicht nur in Unternehmen oder Kommunen, sondern auch an Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Dies traf auch auf das Staatliche Materialprüfungsamt (MPA), der Vorgängerinstitution der heutigen BAM, zu, wie die ersten Archivrecherchen unseres Mitarbeiters Malte Stöcken ergeben haben. So mussten im August 1944 fünf Frauen aus Lettland, 19 Russen sowie ein Holländer am MPA Zwangsarbeit leisten.

Was änderte sich ab der Machtübernahme 1933 für das Materialprüfungsamt?

Erste Maßnahmen des neuen Regimes betrafen innerbetriebliche Strukturen, so die Zerschlagung der Gewerkschaften und die Auflösung der gewählten Betriebsräte. So musste auch der langjährige Betriebsratsvorsitzende des MPA, Wilhelm Blumenthal, sein Amt aufgeben. Studien zu Hochschulen oder Forschungsorganisationen wie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der heutigen Max-Planck-Gesellschaft, haben gezeigt, dass sich der Normalbetrieb zunächst kaum veränderte. Doch bald nach der Verkündung der neuen politischen Rahmensetzung, die auf die Errichtung des „autarken Wehrstaates“ abzielte, wurden die Forschungs- und Prüfeinrichtungen mit diesbezüglichen Aufgaben betraut. Im Personalbereich vollzog sich am MPA, was bei allen kriegswichtigen Instituten zu beobachten ist: Die Mitarbeiterzahlen „explodierten“ förmlich von 275 im Jahr 1936 auf 476 im Jahr 1942. Nach dem Krieg galt es dann, den eigenen Anteil an der Rüstung – also am NS-Vernichtungsapparat – möglichst kleinzureden.

Reichsröntgenstelle im MPA

Ab 1933 war die Reichsröntgenstelle im MPA angesiedelt

Quelle: BAM

Was bedeutete die Verstrickung in den NS-Wehrstaat konkret?

Bereits vor dem Ersten Weltkrieg arbeitete das MPA mit militärischen Stellen zusammen. Prüfaufgaben für militärische Zwecke fielen bis 1933 in den Bereich üblicher Aufgabenstellungen. Danach jedoch gerieten diese Arbeiten sukzessive unter die Zeichen gezielter Kriegsvorbereitung wie z.B. die Forschungen zu Ersatzbaustoffen, Gas- und Luftschutz oder Textilprüfungen für die Wehrmacht.

Ein überragendes Charakteristikum des NS-Innovationssystems bildete die dynamische Ausweitung der autarkie- und rüstungsrelevanten Ressortforschung der Reichsministerien für Wissenschaft, Wirtschaft, Verkehr, Reichswehr, Luftfahrt, Post, Ernährung. Für ihre Zwecke wurden Expertenstäbe rekrutiert, in denen sich die Vertreter der Hochschulen, Industrie, Ressorts und forschenden Behörden versammelten. Die hier betriebenen Vorhaben firmierten als „Gemeinschaftsforschung“. Das MPA war dabei u. a. in der Luft- und Kraftfahrtforschung aktiv.

Das bislang bekannteste Beispiel für die außerordentliche Bedeutung des MPA für die Kriegswirtschaft bildet die Reichs-Röntgenstelle (RSS). So prüfte die RSS im Auftrag der Kriegsmarine in den Unternehmen sogenannte Sperrgeräte, war aber auch für das Reichsluftfahrtministerium tätig. Die kriegswirtschaftliche und rüstungstechnische Bedeutung der RSS wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass sie 1941 zum „Vierjahresplan-Institut für zerstörungsfreie Prüfverfahren“ im MPA erhoben wurde.

Das MPA selbst führte 1944 u. a. Dauerversuche an Schnellbooten der Kriegsmarine durch, untersuchte Bolzenverbindungen von Kriegsbrücken und Ersatzstähle für das Heereswaffenamt sowie Kunststoffe für die Forschungsführung der Luftwaffe. Bereits seit 2002 wissen wir, dass das MPA auch an den Gebrauchswertprüfungen auf der Schuhprüfstrecke des KZ Sachsenhausen beteiligt war. Gesucht wurden Lederersatzstoffe. Häftlinge mussten mit Schuhen aus Ersatzstoffen Gewaltmärsche absolvieren und erlitten schreckliche Fußverletzungen mit Todesfolge. Hier war maßgeblich Paul Kluckow beteiligt, der am MPA bis 1945 Leiter der Abteilung „Kautschuk-, Kohle- und Erdölerzeugnisse“ war. Er untersuchte die Materialeigenschaften der Ersatz- und Klebstoffe.

Was geschah nach 1945 mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern? Gab es im Amt personelle Kontinuitäten?

Tatsächlich zählt die Bewertung der NS-Belastung zu den größten Herausforderungen für unser Vorhaben, denn in den Entnazifizierungsverfahren lagen den Spruchkammern Dokumente kompromittierender Vorgänge aus der Zeit bis Kriegsende eher selten vor. Die Belasteten nutzten demgegenüber die Möglichkeit, sich durch Zeugenaussagen – die berüchtigten „Persilscheine“ – zu verteidigen. Ganz allgemein lässt sich konstatieren, dass die ehemalige Parteizugehörigkeit weder in den westlichen noch in der sowjetischen Besatzungszone ab Anfang der 1950er Jahre ein Hindernis für eine Beschäftigung in den forschenden Behörden bildete.

Viele Akten des MPA gelten seit 1945, als sowjetische Truppen das Amt besetzten und demontierten, als verschollen. Hoffen Sie, in ausländischen Archiven noch Bestände zu finden?

Bereits in anderen Vorhaben zur NS-Geschichte ist es gelungen, Teile dieser „Beuteakten“ in russischen Archiven aufzuspüren. Um den verlorenen Akten der nachgeordneten Behörden auf die Spur zu kommen, haben wir eine Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Institut in Moskau vereinbart. Ich bin zuversichtlich, dass wir an dieser Stelle weiterkommen.

Das MPA nach der Demontage durch sowjetische Truppen

Das MPA nach der Demontage durch sowjetische Truppen

Quelle: BAM

In welcher Form werden die Ergebnisse des Forschungsprojekts der Öffentlichkeit zugänglich gemacht?

Neben zwei internationalen Tagungen, von denen die erste für den Oktober 2021 geplant ist, wollen wir unsere Ergebnisse in den Häusern präsentieren. Nach Abschluss des Vorhabens Ende 2023 werden zu jeder der vier nachgeordneten Behörden je zwei Monographien erscheinen, je eine für die Zeit bis 1945 – Schwerpunkt „Verstrickung“ – und eine für die Nachkriegszeit – Schwerpunkt „Erinnerungskultur“. Hinzu kommt eine Publikation zum biographischen Teilprojekt. Die Ergebnisse sämtlicher Teilprojekte werden durch die Projektleiter, d. h. durch Prof. Dr. Carsten Reinhardt und mich, in einer Monographie zusammengefasst.

Wir danken Ihnen für das Gespräch.

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