
Dr.-Ing. Reza Darvishi Kamachali, Leiter Fachbereich Materialmodellierung der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM)
Quelle: BAM
Seit Anfang 2025 leitet Reza Darvishi Kamachali den Fachbereich 5.5 „Modellierung und Simulation“ an der BAM. Im Interview spricht er über seine ersten Monate an der BAM, seine Forschung zu komplexen Mikrostrukturen, die Relevanz für die Material- und Sicherheitstechnik – und darüber, warum Haltung für ihn zur Wissenschaft dazugehört.
Lieber Darvishi Kamachali, Sie sind jetzt rund ein halbes Jahr an der BAM. Wie haben Sie diese Zeit erlebt – was hat Sie überrascht, beeindruckt oder besonders beschäftigt?
Die BAM bietet eine außergewöhnliche Verbindung von Grundlagenforschung und gesellschaftlich relevanten Herausforderungen. Besonders beeindruckt haben mich die Vielfalt – thematisch ebenso wie personell – sowie die Offenheit für wissenschaftliche Innovationen und das starke Engagement der Mitarbeitenden. In diesem Umfeld konnte ich von Anfang an Impulse setzen, insbesondere durch die Weiterentwicklung innovativer Modelle für komplexe Materialien, Mikrostrukturen und Prozesse.
Materialmodellierung ist ein hochspezialisiertes und zukunftsweisendes Feld. Welche Fragestellungen stehen aktuell im Mittelpunkt Ihrer Forschung – und was fasziniert Sie besonders daran?
Derzeit gibt es mehrere bedeutende Entwicklungen in unserem Fachbereich. Besonders beschäftigt mich die Frage, wie wir Defekte – wie Korngrenzen oder Versetzungen – nicht nur beschreiben, sondern systematisch in den Prozess des Materialdesigns integrieren können. Im Zentrum stehen dabei physikalisch fundierte, skalierbare Modelle, die Thermodynamik, maschinelles Lernen und Mehrphasenfeldmethoden kombinieren, um Mikrostrukturen vorauszusagen, statt sie lediglich nachzubilden.
Die BAM kümmert sich um die Sicherheit in Technik und Chemie. Inwiefern zahlt Ihre Arbeit auf diesen Auftrag ein?
Materialsicherheit basiert auf Verständnis – insbesondere der inneren Strukturen und ihrer potenziellen Schwachstellen. Mit unseren Modellen können wir kritische Mikrostrukturen frühzeitig identifizieren, zum Beispiel bei chemischer Versprödung durch Wasserstoff oder Lithium, wie sie etwa in Batterien vorkommt, oder in Schweißverbindungen. Damit leisten wir einen direkten Beitrag zur einer Sicherer Materialinnovation. Meine Vision ist, dass modellgeleitete, gezielte Experimente unser Weg zu verlässlichen Vorhersagen der Materialintegrität sind.
Ihr Forschungsgebiet hat einen starken Anwendungsbezug. Wo sehen Sie aktuell oder perspektivisch konkrete Einsatzfelder – im Sinne von Wissenschaft mit Wirkung?
Unsere Ansätze eröffnen neue Möglichkeiten für die digitale Materialentwicklung – zum Beispiel in der additiven Fertigung, in der Energietechnik oder bei Hochtemperaturwerkstoffen. Besonders spannend finde ich die Perspektive, Defekt-Phasendiagramme als „digitale Zwillinge“ für Mikrostrukturprozesse in Industrie und Sicherheitstechnik einzusetzen.
Die BAM steht für Interdisziplinarität und Vernetzung. Inwiefern spielt das in Ihrer Arbeit eine Rolle – innerhalb der BAM, aber auch in nationalen und internationalen Forschungsnetzwerken?
Materialinnovation kennt keine disziplinären Grenzen. Deshalb arbeite ich eng mit Kolleginnen und Kollegen aus Experiment, Simulation und Künstlicher Intelligenz zusammen – sowohl innerhalb der BAM als auch in größeren Kontexten, etwa in DGM-Netzwerken, DFG-Programmen oder internationalen Forschungskonsortien. Solche Verbindungen sind entscheidend, um neue Erkenntnisse und Standards jenseits der Grenzen einzelner Disziplinen zu schaffen.
Neben der Leitung des Fachbereichs 5.5 besitzen Sie auch eine Professur an der Universität Münster. Was erhoffen Sie sich von dieser engen Verknüpfung?
Die Verbindung zur Universität ermöglicht es mir, Grundlagenforschung und anwendungsorientierte Modellierung synergetisch zu verknüpfen und junge Talente direkt in translational relevante Projekte einzubinden. Gleichzeitig fördert sie den Wissenstransfer zwischen akademischer Exzellenz und regulatorischer Relevanz – eine Verbindung, die mir sehr wichtig ist.
Zum Schluss: Was motiviert Sie in Ihrer täglichen Arbeit – sowohl in der Forschung als auch in der Verantwortung als Führungskraft?
Was mich motiviert, ist die Überzeugung, dass gute Wissenschaft nicht nur Wissen, sondern auch Haltung erfordert. Ich möchte ein Umfeld schaffen, in dem Ideen wachsen können – mit wissenschaftlicher Tiefe und einem klaren Bewusstsein für die positive gesellschaftliche Wirkung im Dienst der Menschheit.