Mitarbeitende des Materialprüfungsamtes auf einem Gruppenbild

Mitarbeitende des Materialprüfungsamtes während der NS-Zeit (undatierte Aufnahme).

Quelle: BAM

Seit zwei Jahren erforscht ein Historiker*innen-Team die NS-Vergangenheit der BAM sowie der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) und Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB). Die heutigen Bundesbehörden gehen auf Vorgängerinstitutionen zurück, die bereits im 19. Jahrhundert gegründet wurden, und sind heute dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) nachgeordnet. Neue Archivfunde geben Einblicke in die Verstrickung des damaligen „Materialprüfungsamtes“ (MPA) in die Autarkiepolitik und Aufrüstung des NS-Regimes sowie in den Umgang mit der eigenen Vergangenheit nach 1945. Ein Gespräch mit den Historiker*innen Simon Große-Wilde, Elisabeth Kölmel und Malte Stöcken.

Sie haben in den letzten Monaten an der BAM Akten aus der NS-Zeit und der unmittelbaren Nachkriegsperiode gesichtet. Welche bislang unbekannten Bestände konnten Sie ausfindig machen?

Kölmel: In der Forschung galt bisher als gesichert, dass ein großer Teil der Akten des ehemaligen Materialprüfungsamtes im Zuge der Besatzung durch sowjetische Truppen in die UdSSR abtransportiert wurde. Dennoch konnten wir im Zentralarchiv der BAM eine große Anzahl an Verwaltungs- und Personalakten sowie Korrespondenzen mit verschiedenen staatlichen Einrichtungen und der Industrie finden. Auch konnten wir beispielsweise Akten der ehemaligen Abteilung „Baukonstruktionen“ sowie die umfangreiche Überlieferung der Abteilung „Faserstoffe“ des MPA ausfindig machen.

Große-Wilde: Zudem sind wir auf Akten der ehemaligen Chemisch-Technischen Reichsanstalt (CTR) gestoßen, die nach 1945 mit dem MPA zusammengelegt wurde. Das ist für die historische Forschung ein besonders wichtiger und bislang unbekannter Quellenkorpus. Wir konnten so Bestände erschließen, die über die forschungspraktische Tätigkeit der CTR in den 1930er und 1940er Jahren Auskunft geben.

Welche Erkenntnisse ergeben sich aus diesen Funden?

Stöcken: Wir können jetzt z. B. Arbeiten der Abteilung Faserstoffe für die Autarkisierung und Aufrüstung Deutschlands nachvollziehen. So wurde dort die täglich von verschiedenen Unternehmen eingehende „deutsche Zellwolle“ auf ihre Einsatzmöglichkeit als Austauschstoff für importierte Baumwolle und Seide geprüft. Zudem testete die Abteilung im Auftrag der Luftwaffe laufend Seile und Stoffe für Fallschirme sowie Uniformstoffe. Von der Abteilung Baukonstruktionen sind Untersuchungen zur Widerstandsfähigkeit verschiedener Betonsorten gegen den Beschuss durch Haubitzen und Mörser hervorzuheben. Für Beschussversuche im Auftrag der Wehrmacht ließ das MPA eigens eine neue Halle bauen und dort ein Geschütz installieren.

Große-Wilde: Zudem lässt sich aus den vorhandenen Quellen der enorme Ausbau der Mitarbeiterzahlen und Tätigkeitsfelder der CTR ablesen, die im Jahr 1944 mit etwa 1000 Mitarbeitern einen Höchststand erreichte. Darüber hinaus zeigen die überlieferten Schriftwechsel, dass die CTR in hohem Maße Aufgaben und Aufträge für das Heereswaffenamt übernahm und auf dem Gebiet der Sprengstoff- und Acetylenchemie zu einem zentralen Ansprechpartner der Wehrmacht sowie der Industrie avancierte.

Gibt es neue Erkenntnisse zum Thema Zwangsarbeit?

Stöcken: Bei unserer ersten Recherche in der BAM haben wir eine Quelle zum Personalbestand des MPA gefunden, in der auch 19 russische, ein niederländischer und fünf lettische „Fremdarbeiter“ aufgeführt sind. Im Archiv haben wir nunmehr Akten ausfindig machen können, aus denen hervorgeht, dass spätestens 1942 eine Baracke des Materialprüfungsamtes in ein sogenanntes „Russenlager“ umgewandelt wurde. Zur selben Zeit erließ der damalige Präsident des MPA, Erich Siebel, eine Rundverfügung an die einzelnen Abteilungen, in der er über den anstehenden ausgeweiteten Einsatz von Kriegsgefangenen und ausländischen Zivilarbeitern informierte und den Mitarbeitenden des MPA genaue Anweisungen zum Umgang mit diesen erteilte. Unter anderem wurde dem Personal des MPA verboten, sich mit den ausländischen Arbeitern außerdienstlich zu unterhalten und ihnen Kleidungsstücke auszuhändigen. In zwei weiteren Baracken auf dem Amtsgelände wurden dann weitere so genannte „Ostarbeiter“ und Litauerinnen untergebracht. Da uns einige Namen dieser Personen bekannt sind, hoffen wir, etwas über deren weiteres Schicksal herausfinden zu können.

Im Gegensatz zu anderen Instituten, die weitgehend in die Rüstung eingebunden waren, ist das Materialprüfungsamt nach Kriegsende nicht aufgelöst worden. Lässt sich daraus auf Kontinuitäten schließen oder bedeutete das Jahr 1945 einen echten Umbruch und Neuanfang für das Amt?

Kölmel: Das Kriegsende bedeutete für das MPA einen gravierenden Einschnitt. Infolge der Demontage von Geräten und Inventar durch die sowjetische Besatzungsmacht wurde die Arbeitsfähigkeit des Amtes erheblich beeinträchtigt. Beim Personal ist vor und nach 1945 allerdings eine starke Kontinuität festzustellen, was sich anhand der Personalakten sehr genau rekonstruieren lässt. Mit der Übernahme eines Gros der Abteilungsleiter, Techniker und Wissenschaftler blieben auch nach 1945 politisch Belastete im MPA tätig. Bei der Auswahl der Mitarbeitenden wurde also nach Kriterien verfahren, die mit wenigen Ausnahmen unabhängig von der jeweiligen Belastung des Einzelnen getroffen worden waren. Vorrangig sollte der Wissens- und Erfahrungstransfer durch die Weiterbeschäftigung der jeweiligen Experten auf ihren Fachgebieten sichergestellt werden. Die Leitungsebene des MPA bemühte sich, aufgrund der Entnazifizierungsgesetze der Alliierten entlassene Mitarbeiter wiedereinzustellen. Dabei wurden zahlreiche sogenannte „Persilscheine“ für die Betroffenen ausgestellt, deren Belastung bei ihren Spruchkammerverfahren dadurch vielfach niedriger eingestuft wurde.

Was teilen die Akten über die Auseinandersetzung mit der sowohl individuellen als auch institutionellen Vergangenheit im MPA mit?

Kölmel: Einen wichtigen Fund bilden in diesem Zusammenhang die vom Mai 1945 bis in die 1970er Jahre vom damaligen BAM-Präsidenten Maximilian Pfender verfassten Notizbücher, die bislang unbekannt waren und deshalb nicht von der Forschung berücksichtigt wurden. Sie geben nicht nur Auskunft über die Arbeit und Organisation des Amtes, sondern enthalten auch Einträge und persönliche Wertungen von Pfender zu Mitarbeitenden und Ehemaligen, die der NSDAP angehört hatten. Da die etwa 3.500 Blätter umfassenden Notizbücher zudem Auseinandersetzungen innerhalb des MPA über den Umgang mit der individuellen und institutionellen Vergangenheit dokumentieren, geben sie einen wertvollen Einblick in das Innere des Amtes und dessen Vergangenheitspolitik.
Dies betrifft auch die wenigen erhaltenen Protokolle der Betriebsratssitzungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, aus denen hervorgeht, dass die Mitglieder des Betriebsrats ausführlich über das weitere Schicksal der politisch belasteten Mitarbeitenden im MPA diskutierten und gemeinsam über deren Verbleib oder Ausschluss nach eigenen Kriterien entschieden.

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